Hier ist bereits auf Englisch und auch auf Chinesisch gesprochen worden. Es ist an der Zeit, dass ein Vortrag auch auf Ungarisch gehalten wird.

 

Sehr geehrter Herr Gouverneur, verehrte Gäste der Konferenz!

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich die Einladung zu dieser Konferenz annehmen soll. Es stand außer Zweifel, dass die Einladung an sich schon eine Ehre darstellt, jedoch vollziehen sich derartige weltpolitische Ereignisse – einige von diesen sind an dieser Stelle bereits angesprochen worden: Brexit, ein neuer amerikanischer Präsident und all die Folgen dessen –, dass man im Schatten dieser Ereignisse ohne Sätze mit starkem politischen Inhalt nicht gültig über die Zukunft sprechen kann. Und dies beinhaltet Risiken, ja könnte die Konferenz auch aus ihrem gewohnten friedlichen Takt bringen. Dies musste bedacht werden, jedoch habe ich schließlich die Einladung aus dem Grunde angenommen, weil wir erstens die Gedanken von Herrn Larosière hier in Ungarn bereits seit den achtziger Jahren kontinuierliche verfolgen, also ist eine echte Legende hierher gekommen, und mit ihm an einem Tisch zu sitzen, ist schon an sich eine Ehre, andererseits ist auch Herr Tian Guoli hier, der schon seit langen Jahren auch im Allgemeinen, aber besonders in der Öffnung nach Osten unser Freund ist. Hinzu kommt noch, dass er es ist, der unsere überdimensionierte europäische Selbsteinschätzung anlässlich unserer regelmäßigen Treffen dadurch auf ihr richtiges Maß zurückstutzt, indem er jene Zahlen mitteilt, die auch Sie hier vorhin haben hören können. Ich habe auch ihm viel zu verdanken, und es ist eine Ehre, mit ihm heute hier gemeinsam sein zu dürfen.

 

Hinzu kommt noch, dass der Aufstieg Chinas uns hier in Europa auf ein psychologisches Problem aufmerksam macht. Es gibt den Spruch, der sich unkompliziert einfach anhört: Was existiert, ist möglich. Dies verstehen die Europäer nicht, zumindest wenn es um China geht, dann verstehen sie es nicht. Denn anstatt daraus lernen zu wollen, was in China geschieht, wenden wir einen ansehnlichen Teil unserer Energien dafür auf, zu erklären, warum das nicht existiert, was es in China gibt, oder wenn es trotzdem existiert, warum es dann vorübergehend sei, keine Grundlagen besitze, diesen Takt könne man gar nicht aufrechterhalten, es gebe derartige innere Spannungen in der chinesischen Gesellschaft, dass das Ganze dann politisch scheitern werde... Also anstatt zu lernen und zu verstehen, dass das, was existiert, möglich ist, wollen wir uns dies erklären. Denn all das, was in China möglich ist, und existiert, das reiht uns weiter hinten ein. Anstatt diese Tatsache zu akzeptieren und lernen zu wollen, erklären wir, dass die Dinge gar nicht derart beschaffen sind. Und aus diesem Grunde rettet uns, Ungarn, das Treffen mit Herrn Vorstandsvorsitzenden Tian Guoli vielleicht vor diesem europäischen Problem.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Aber das wahre entscheidende Grund, weshalb ich die Einladung schließlich angenommen habe, ist Herr Professor Lámfalussy selbst, denn – wie dies auch schon Herr Larosière sagte – wir gedenken heute eines großartigen Menschen, der auch noch ein väterlicher Freund Ungarns war und dies auch blieb, nachdem er wegen der Kommunisten aus Ungarn fliehen musste. Er musste ganz bis nach Belgien fliehen, und trotz dessen blieb er immer ein Ungar, und er blieb immer ein guter Freund Ungarns. Er konnte zwischen dem gerade aktuellen politischen Regime und der Heimat einen Unterschied machen, und dies ist eine Tugend, die es wert ist, sich vor ihr zu verbeugen. Hinzu kommt noch, dass er auch ein guter Mensch war, wie sie das haben hören können. Es gibt in unserer Kultur jenen grundsätzlichen Spruch, dass Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind, und Herr Professor Lámfalussy war ein Mensch des guten Willens, weshalb er Frieden, Liebe und Respekt von uns allen erhielt. Wenn dies allein nicht ausreichend gewesen sein sollte, dann möchte ich noch in Erinnerung rufen, dass er auch ein Mitarbeiter von mir war. Jetzt brüste ich mich: Er arbeitete auch als Berater an meiner Seite, er beaufsichtigte mich auch – im intellektuellen Sinne des Wortes. Die Warnungen vor jugendlichen Übertreibungen habe ich regelmäßig von ihm erhalten, „Das wird ein Problem werden, Viktor!” mahnte er, und er war unser Botschafter und auch unser Beglaubiger in der westlichen Finanzwelt, sodass wir ihm nur dankbar zu sein haben. Außerdem konnten wir von ihm auch lernen, und es lohnt sich, bestimmte Beispiele aus seinem Leben in unseres zu übernehmen. Er war ein offener Mensch, und dies besitzt in der westlichen Demokratie eine besondere Bedeutung. Nach unserer Auffassung – sagen wir, nach der ungarischen, aber vielleicht auch als mitteleuropäisch zu nennenden Auffassung – basiert die gute Demokratie auf Argumenten, und wir sind Anhänger der auf Argumenten basierenden Demokratie. Hierzu sind aber offene Menschen notwendig, ein offener Geist und ein gerader Charakter sind notwendig, und bei Herrn Professor Lámfalussy war sowohl der offene Geist als auch der gerade Charakter vorhanden, wir könnten also auch sagen, er war einer von uns, er hat die besten Eigenschaften der Ungarn verkörpert. Ich habe von ihm auch lernen können – und vielleicht hat er selber es auch genau so formuliert –, dass am Ende immer der Charakter zählt, es gibt also immer die schwierigen intellektuellen Fragen, die man abwägen muss, zu denen der Verstand notwendig ist. Dies ist sehr wichtig. Klammer auf: Verstand kann man auch kaufen, besonders wenn man ein Ministerpräsident ist, Klammer zu, denn man engagiert die klügsten Menschen, und schon besitzt man Verstand. Bei uns läuft das so einfach, anders als in anderen Berufen. Es gibt also den Verstand und es gibt die schwierigen Fragen, und es gibt die intellektuelle Herausforderung, doch am Ende, wenn die Entscheidung getroffen werden muss, sagte Herr Professor Lámfalussy, zählt immer der Charakter. Und diesen Satz setzte er folgendermaßen fort: „Deshalb, lieber Viktor, solltest auch Du jedes Jahr einmal für eine Woche in die Wüste zum Wandern gehen, wie auch ich das tue.” Und es ist wahr, diese seine Angewohnheit behielt der Herr Professor, solange es ihm seine physische Verfassung zuließ, auch immer bei. Und die wichtigste Sache, die ich von ihm gelernt habe, ergab sich aus einer provokativen Situation, als – die Älteren werden sich vielleicht noch daran erinnern – es zu Beginn der neunziger Jahren bis aufs Blut geführte ideologische Gefechte in der Frage gab, welchen Charakter das System nach dem Kommunismus haben sollte: liberal, christlich oder welcher Art? Das waren schwierige Zeiten voller Provokationen und der Herr Professor – der bekanntlich ein christlicher Mensch war – konnte auch dem nicht ausweichen, dass ihm, als er nach Hause kam, ein ungehobelter Journalist die Frage stellte: Sind Sie ein christlicher Mensch? Jetzt jene christliche Regel in Klammern gesetzt, dass wir einander solch eine Frage nicht stellen. Er erhielt diese Frage und die Antwort des Herrn Professor war, die ich auch seitdem in meiner Tasche oder in meinem Herzen mit mir herumtrage und als gültige Antwort ansehe. Er antwortete nämlich mit völliger Seelenruhe auf die Frage, ob er ein Christ sei: Ich bemühe mich, es gelingt aber nicht immer.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Dies waren also jene Erinnerungen, die es meiner Ansicht nach wert waren, auf einer Lámfalussy-Konferenz ins Gedächtnis gerufen zu werden. Aber ich glaube nicht, dass diese Umstände die Gründe dafür geliefert hätten, den Preis nach Sándor Lámfalussy zu benennen. Der Grund hierfür ist vielmehr darin zu suchen, dass man ihn in Ungarn für den Vater des Euro hält. Ich habe, als ich ihn einmal für eine Auszeichnung vorschlug, in die Begründung geschrieben, er ist der Mensch, der nicht nur in Ungarn weltberühmt ist. Unsere Gäste verstehen diesen Satz vielleicht nicht, aber wir, Ungarn, verstehen ihn genau: Er war jener Ungar, der nicht nur in Ungarn weltberühmt war, und dies ermöglichte wahrscheinlich die Rolle, die er in der Begründung des Euro gespielt hatte. Es ist nicht sicher, ob er dem zugestimmt hätte, dass man diesen Preis nach ihm benennen sollte, denn er selbst hielt sich nicht für den Vater des Euro. Als ich mich mit ihm hierüber unterhielt, sagte er, natürlich müsse man hier viele Arten von Arbeit bewältigen, doch sei die Wahrheit, dass für den Euro in erster Linie nicht ökonomisches Wissen notwendig wäre – obwohl es nicht schadete, wenn auch dieses zur Hand war –, sondern ein fester politischer Wille. Deshalb muss man den Vater des Euro nicht unter den Ökonomen, sondern unter den damaligen Politikern suchen, und hierin haben sich Frankreich und Deutschland besonders hervorgetan. Ich fragte ihn, woher er den Mut nahm? Woher nahm er den Mut, Politikern den Rat zu geben, sie sollen eine monetäre Union auf die Weise erschaffen, dass dahinter keine fiskalische und politische Union stehe? Hatte er dies nicht als ein Hasardieren empfunden? Er gab eine erschütternde Antwort, denn er sagte, am Ende würden die Politiker einsehen, dass hinter die monetäre Union auch eine fiskalische und politische Union erschaffen werden müsse. Dies erschütterte mich, weil ein historisches Unterfangen dieses Maßstabs auf die nüchterne Einsicht der Politiker aufzubauen eine ziemlich riskante Sache ist, und die Zeit hat vorerst nicht dem Herrn Professor Recht gegeben, sondern vielmehr unseren Zweifeln. Auch der Vortrag von Herrn Präsidenten Larosière bewegte sich im Grunde um die Achse jenes Zweifels, ob die europäischen Entscheidungsträger über ausreichende Einsicht für jene notwendigen Entscheidungen verfügen werden, ohne die eine monetäre Union nicht aufrechterhalten bleiben kann. Ich weiß nicht, wie die Antwort auf diese Frage lautet, ich weiß nur, dass dies die größte Frage der europäischen Zukunft ist. Was ich als Moral aus dieser kleinen Geschichte ziehen kann, ist, dass wir von Herrn Professor Lámfalussy auch gelernt haben, dass die Grundlage der erfolgreichen Wirtschaftspolitik die Politik, und vor allem deren Stabilität ist.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Die Voraussetzung der starken Wirtschaft ist – auch dies haben wir von ihm gelernt –, dass die Vertreter der Finanzwelt und die Vertreter der Politik am gleichen Strang ziehen. Die Zeit hat ihm Recht gegeben. Allein wenn wir an die Geschichte der Ungarischen Nationalbank in dem jüngsten Zeitalter denken, dann können wir feststellen, dass wenn die Nationalbank in der Opposition war – dies ist nicht sehr lange her, hieran können wir uns noch erinnern –, und als Folge dessen die Politik und die Finanzwelt nicht an einem Strang, sondern an zwei verschiedenen Strängen zogen, da hat Ungarn viel gelitten – unnötigerweise. Seit die Nationalbank nicht mehr in der Opposition ist, sondern die Zusammenarbeit mit der jeweiligen politischen Führung des Landes sucht, seitdem ist die wirtschaftliche Entwicklung derart spektakulär, die auch die bereits vor mir Sprechenden erwähnt haben.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Hiernach muss ich darüber sprechen, dass seit 2008, das unser französischer Vortragender als „wake-up call bezeichnet hat, also seit der Finanzkrise des Jahres 2008 vollzieht sich ein Paradigmenwechsel in der Weltwirtschaft und in der Weltpolitik, und heute ist es ein Gradmesser für den Erfolg der europäischen Länder, welche jene Länder waren, die diesen Wechsel sofort vollziehen konnten, welche jene, die dies langsamer getan haben, und welche jene, die sich immer noch erst in der Phase des Sichbesinnens befinden. Dieser Paradigmenwechsel – was natürlich ein snobistischer Ausdruck ist, jedoch durchaus einen Sinn besitzt – will uns so etwas sagen, dass es ein altes System der Welt gab, ein altes Paradigma, in dem unsere Gedanken geboren wurden und in dem wir diese einordnen mussten, und dies hörte sich nach 1990 in Form eines ebenfalls eleganten sprachlichen Versuches folgendermaßen an: Die Welt hat einen Pol, in Wirklichkeit ein Zentrum, die Weltordnung hat eine Machtzentrale. Hierin lebten wir beinahe zwanzig Jahre lang. Die Kraftlinien der Welt ordneten sich um ein einziges Kraftzentrum herum an. Das neue Paradigma besteht daraus, dass es mehrere Zentren gibt, ich sage nicht mehrere Pole, weil in der ungarischen Sprache „mehrere Pole“ soviel wie zwei bedeutet, den Nord- und den Südpol, dies ist aber nicht mit dem identisch, worüber ich spreche, weil es hier nicht zwei Pole geben wird, sondern mehr als diese, deshalb ist der Ausdruck „mehrere Zentren“, „mehrere Kraftzentren“ genauer. Die notwendige Folge dieses Paradigmenwechsels ist, dass es über ihn keinen allgemeinen Konsens gibt. Also ob dies überhaupt existiert? Ob die Europa treffende Krise nach 2008 konjunktureller oder struktureller Natur, also auf dem Feld der Wettbewerbsfähigkeit sei: Hierüber gibt es heute keinen Konsens unter den führenden europäischen Politikern. Wenn Sie die 27 europäischen Ministerpräsidenten im Rahmen eines Interviews befragen würden, dann könnten Sie sehen, dass es in dieser Hinsicht keinen allgemeinen Konsens gibt, das heißt der Paradigmenwechsel hat auch jetzt, so wie früher, beziehungsweise auch dieser Wechsel besitzt jetzt, so wie immer, als notwendigen Begleitumstand, dass sich die Anhänger der alten Ordnung mit den Anhängern der neuen Ordnung eine scharfe Debatte liefern müssen. Hierüber könnten wir, Ungarn, im Zusammenhang mit unserer Wirtschaftspolitik nach 2010 erzählen.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Wenn man auf solch einer Konferenz das Wort ergreift, dann lautet die erste Frage, die man geradeheraus und offen stellen muss – und es gehört sich auch, den Versuch zu unternehmen, sie zu beantworten –, wie wir jene Weltsituation deuten sollen, in der auch diese Konferenz abgehalten wird. Ein entscheidendes Element ist über die wirtschaftlichen Zahlen hinaus, wie wir das vorhin hören konnten, natürlich der neue Präsident der größten Militärmacht der Erde, der Vereinigten Staaten, seine Einsetzung und die von ihm empfohlene Politik. Ich muss sagen, ich höre den Analysten und den Experten, wenn Sie so wollen: den Anhängern des alten Paradigmas zu, die uns ständig glauben machen möchten – obwohl wir einen Brexit, ein amerikanisches Wahlergebnis, bereits eine italienische Volksabstimmung gehabt haben, uns trotzdem ständig einreden wollen –, es würde nicht so heiß gegessen, wie gekocht worden sei. Man könne nicht derartige Veränderungen verursachen, wie sie der amerikanische Präsident anstrebt, oder die wir dem amerikanischen Präsidenten zuzuschreiben pflegen. Ich möchte die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass dies eine Torheit ist. Was existiert, das ist möglich, und dies trifft nicht nur für China zu, sondern ist auch für die Vereinigten Staaten wahr. Selbstverständlich ist es noch zu früh, um den Raum und den Maßstab jener Veränderungen ermessen zu können, die der gegenwärtige Charakterwandel der westlichen Welt verursachen wird, und ich würde auch mir und selbstverständlich auch Ihnen zur Vorsicht raten, doch bin ich der Ansicht, wir haben in der vergangenen Woche einen Schlüsselsatz erhalten, und diesen Schlüsselsatz müssen wir ernst nehmen. Und wenn wir dies richtig verstehen, dann werden wir alles in der Hinsicht verstehen, was sich noch ereignen wird. Dieser Schlüsselsatz ist nicht jener, den die meisten zu zitieren pflegen, dieses „Amerika zuerst / America first”, sondern der danach folgende Satz, der folgendermaßen lautete: „Jede Nation besitzt das Recht, sich selbst an die erste Stelle zu setzen.” Das ist die große Veränderung! Dieser Satz hätte früher nicht aus dem Mund des amerikanischen Präsidenten erklingen können. Jetzt ist er gesagt worden. Dies bedeutet das Ende des Multilateralismus und den Beginn des bilateralen Zeitalters. Dies ist für uns eine gute Nachricht, denn es ist ja ein widernatürlicher Zustand, wenn man aufgrund äußerer Zwänge nicht wagt auszusprechen, dass man letztlich doch die eigene Heimat an die erst Stelle setzt, wenn man regiert, wenn man Entscheidungen trifft oder gerade Beschlüsse der Notenbank in Erwägung zieht. Dieser widernatürliche Zustand ist vorbei. Wir haben von der – sozusagen – höchsten weltlichen Stelle die Erlaubnis erhalten, nach der auch wir uns selbst an die erste Stelle setzen dürfen. Dies ist eine große Sache, eine große Freiheit und ein großes Geschenk.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Es ist meine Überzeugung, dass der eine Pol notwendigerweise das eine Modell, und die mehreren Pole die mehreren Modelle in die Weltwirtschaft bringen. Dies bedeutet, dass es mit den multilateralen Vertragssystemen es sehr schwer ist die verschiedenen Modelle in ein System zusammenzufassen, deshalb eröffnet sich der Raum vor den bilateralen Lösungen auch in der Militär- und in der Wirtschaftspolitik. Woraus folgt, dass es keine, allen aufzwingbare Wirtschaftspolitik gibt, die die Nationen mit ansonsten unterschiedlicher Position und unterschiedlichen Gegebenheiten gleichermaßen erfolgreich machen würde. In Wirklichkeit wächst die Weltwirtschaft heute aus dem Grunde – zumindest habe ich das so verstanden, habe ich diese Schlussfolgerung aus der Rede des chinesischen Referenten gezogen –, in Wirklichkeit wird das Wirtschaftswachstum heute überhaupt in der Welt dadurch aufrechterhalten, dass es verschiedene Modelle, verschiedene Wirtschaftspolitiken gibt, denn wenn die Chinesen uns imitieren wollten, dann glaube ich kaum, dass das Wachstum der Weltwirtschaft ihr heutiges Ausmaß besitzen könnte. Folgerichtig müssen wir den Aufstieg der neuen Pole oder der neuen Zentren viel eher begrüßen, als denn sie als Gefahr zu betrachten. Dies ist eine entscheidende Frage, denn die bisherigen Führer der Welt, das heißt wir, Westler, könnten dies auf logische Weise als Gefahr, als Positionsverlust und als Risiko ansehen. Wenn wir uns aber auf diese Weise zu dem Aufstieg der mehreren neuen Zentren stellen wollen, dann ist es meine Überzeugung, dass wir uns selbst zur Erfolglosigkeit verurteilen.

 

Die polyzentrale Weltordnung beinhaltet Möglichkeiten. Da ist China, über das wir schon gesprochen haben, an dem deutlich erkennbar ist, dass es kein Komet, sondern ein derartiger Fixstern ist, der die Weltwirtschaft zumindest über lange Jahrzehnte hinweg bestimmen wird. Da ist Russland, um eine einfache Angelegenheit anzuführen, um ein einfaches und ungefährliches Thema anzuschneiden. Da ist Russland, das – sprechen wir geradeheraus – die Versuche des Westens zu seiner Isolierung und zum Sturz seines Systems überlebt hat, den niedrigen Ölpreis überlebt hat, die Sanktionen überlebt hat, und auch die freien, unparteiischen, ohne Einflussnahme von außen durchgeführten inneren Manöver der als nicht regierungsaffin zu bezeichnenden NGO-Organisationen überlebt hat. Dies alles hat es überlebt, es existiert also, weshalb es nicht vernünftig ist, besonders in Europa nicht vernünftig ist, jene Kraft und zugleich Möglichkeit außer Acht zu lassen, die Russland darstellt. Natürlich wäre, um dies machen zu können, ein größeres europäisches Selbstbewusstsein nötig und wir müssten jenen Satz ehrlich aussprechen – den wir vermutlich deshalb nicht aussprechen, weil er nicht der Wirklichkeit entspricht –, dass wir, Europäer, uns selbst militärisch auch ohne äußere Hilfe verteidigen können. Doch wir wagen es nicht, diese Satz auszusprechen, weil es nicht so ist. Hierzu möchte ich noch später, an einen unserer Vortragenden anknüpfend, einen Satz sagen. An dieser Stelle merke ich nur soviel an, dass wir es begrüßen, dass wir gute Gründe haben, die Tatsache zu begrüßen, dass der meiner Hoffnung nach zukünftige französische Staatspräsident – Verzeihung, dass ich mich in die inneren Angelegenheiten Frankreichs einmische, aber der meiner Hoffnung nach zukünftige französische Staatspräsident – in den nächsten Tagen, vielleicht heute oder morgen Berlin einen Besuch abstatten wird, und laut der Ankündigung wird die wichtigste Angelegenheit, die er aufwirft, die Frage des gemeinsamen europäischen Verteidigungsbündnisses sein. Was im Übrigen den Weg in Richtung auf das Selbstbewusstsein öffnen könnte, und das Selbstbewusstsein in jedwede Richtung auf die Verhandlungsfähigkeit hin, Russland hier mit inbegriffen. Und da haben wir noch gar nicht über Indien gesprochen – vielleicht sind wir heute auch nicht deshalb hier –, in dem sich immer noch zahlreiche Ressourcen befinden und auf solchen Gebieten Leistungen von Weltniveau vollbringt, welche Gebiete in den folgenden zwanzig Jahren großen Einfluss auf die Weltwirtschaft haben werden.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Also steigen neue Zentren auf. Längst vergessene Handelsrouten erwachen erneut zum Leben. Mit notwendigem Respekt müssen wir erwähnen, dass es im Jahre 2013 Herr Staatspräsident Xi Jinping war, der die Initiative „Eine Zone, ein Weg” startete, die die erste Schwalbe war, der meiner Ansicht nach in dem uns bevorstehenden Zeitraum weitere folgen werden. Die zweite Frage, die wir im Rahmen solch eines Vortrags anschneiden müssen, ist die Frage, wie Europa von Mitteleuropa aus gesehen erscheint? Die Antwort kann man in einem Satz auf die Weise zusammenfassen: Wir erkennen es kaum wieder.

 

Es kämpft mit vier Krisen gleichzeitig, und es war nicht in der Lage, im vergangenen Zeitraum auch nur eine von ihnen auf beruhigende Weise zu beantworten. Da ist eine Wachstumskrise oder genauer eine Krise in der Wettbewerbsfähigkeit. Es kämpft mit einer demographischen Krise. Es leidet unter einer Krise der Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit, unter einer Terrorkrise. Und es steckt in einer außenpolitischen Krise, die sich darin manifestiert, dass wir in unser Leben unmittelbar beeinflussenden Regionen keinerlei Einfluss auf die dort sich ereignenden Ereignisse ausüben können. Sie können an Syrien, aber auch an die Ukraine denken. Dies ist eine außenpolitische Krise.

 

Europa ertrinkt in Schulden. Es ist vielleicht überflüssig, an dieser Stelle die Zahlen anzuführen, Sie kennen diese besser als ich. Jeden Tag erwirtschaften die zur Europäischen Union gehörenden Staaten ein Defizit von etwa Tausend Millionen Euro. Das Wirtschaftswachstum ist langsam wie eine Schnecke, hierüber haben wir auch von Herrn Larosière hören können. Im vergangenen Jahrzehnt überstieg es im Jahresdurchschnitt gerade so das 1 Prozent, und das der Eurozone verblieb unter dem 1 Prozent. Und seit 2008 sind vom gesamten europäischen Arbeitskräftemarkt 6 Millionen Arbeitsplätze verschwunden. Heute höre ich schon immer mehr die Stimmen der Resignation, als ob die Fachleute, aber langsam auch die Entscheidungsträger sagen würden, dass das europäische Wachstum auch in dem vor uns stehenden Jahrzehnt kaum das 1, eventuell 2 Prozent übertreffen wird. Europa ist heute bei weitem nicht mehr ein so sicherer Ort wie es einst war: Zu Hunderttausenden leben mit uns Menschen, über die wir nicht einmal wissen, was sie hier zu suchen haben, warum sie hierher gekommen sind, und was sie genau wollen. Wir müssen der Tatsache ins Auge blicken, selbst wenn dies ein unfreundlicher Satz zu sein scheint, so ist er dennoch wirklich: Wir dürfen uns nicht das vorstellen, was wir sehen möchten, sondern wir müssen der Wirklichkeit ins Auge blicken. Und die Wirklichkeit lautet, dass dort, wo sich viele Einwanderer in Europa niedergelassen haben, dort ist sofort – nicht später, sondern sofort! – die Kriminalität angestiegen und mit deren Folgen müssen auch wir rechnen. Zusammengefasst: Der  europäische Kontinent wird immer schwächer. Er ist aus einem globalen Akteur zu einem regionalen Akteur geworden, und langsam muss er auch schon um seinen Status als regionaler Akteur kämpfen.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Wir können im Rahmen eines solchen Vortrags nicht die Frage umgehen, besonders wenn wir von Lámfalussy und der offenen, auf Argumenten basierenden Demokratie sprechen, wie dies geschehen konnte? Warum ist das so? So viele Menschen man fragt, so viele Antworten erhält man. Auch ich trete nicht mit dem Anspruch auf, dass ein jeder meine Lösung als die einzig mögliche Antwort akzeptiert. Ich trage vielmehr nur zu der Diskussion hierüber bei. Es ist meine Überzeugung, dass sich Europa große Ziele gesteckt hatte und keines davon verwirklichen konnte. Ich war auch schon im Jahre 1998 Ministerpräsident, als die Beitrittsverhandlungen vorbereitet werden mussten, ich besitze also den Vorteil oder auch den Nachteil, dass ich mich an die Verhandlungen mit den damaligen Regierungschefs erinnere, als noch Chirac und Kohl mit uns zusammen am Verhandlungstisch saßen, und wir die großen Pläne formulierten. Als wir sagten, der Euro solle – neben dem Dollar die andere – Reservewährung der Welt sein; dies ist nicht gelungen. Wir sagten, wir wollen eine eigene, auf die europäische Kräfte aufbauende Sicherheitspolitik erschaffen; daraus ist nichts geworden. Und wir haben das Ziel gesteckt, dass es einen eurasischen Wirtschaftsraum geben solle, welcher, so sagten wir, sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt; hiervon ist heute keine Rede mehr, auch daraus ist nichts geworden. Ich spreche also nicht über einen allgemeinen Niedergang, was uns in eine uferlose Zivilisationsdebatte führen würde, sondern ich spreche über die Nichterfüllung konkreter Ziele, wenn ich die Ursachen suche.

 

Meine Erklärung ist, dass Brüssel zur Geisel einer Utopie geworden ist. Diese Utopie trägt den Namen „das übernationale Europa“, und in dem vergangenen Zeitraum hat es sich herausgestellt, dass dies eine Illusion ist. Es gibt kein europäisches Volk, es gibt europäische Völker, aber kein europäisches Volk. Und wenn es kein europäisches Volk gibt, dann kann man nicht auf das nicht existierende europäische Volk ein europäisches Institutionensystem aufbauen. Dann muss man die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass es in Europa Völker gibt, und man auf die Politik, die Absicht, den Willen und die Zusammenarbeit der Völker ein gesamteuropäisches System aufbauen kann. Das haben wir verfehlt. Diese Unterscheidung war in dem vergangenen Zeitraum in den Hintergrund getreten. Vielleicht können die Erfahreneren unter uns meine Meinung bestätigen, dass wenn wir die Erfolgsperioden des europäischen Kontinents suchen, dann können wir sagen, Europa war niemals dann stark, zumindest nicht anhaltend, wenn es von einem Kraftzentrum aus gesteuert wurde. Wir waren dann stark, wenn es auch innerhalb Europas mehrere Kraftzentren gab. Und heute will die Brüsseler Politik diese Kraftzentren zu einem einzigen Kraftzentrum umformen, was meiner Ansicht nach die Antwort auf die Frage gibt, wie wir hierher gelangt sind, wo wir jetzt stehen.

 

Hiernach müssen wir, meine sehr geehrten Damen und Herren, schließlich eine einzige Frage stellen. Wenn all dies so ist, wie können wir dann Europa erneut wettbewerbsfähig machen? Herr Larosière hat uns vorhin eine attraktive und in breitem Bogen angelegte Antwort auf diese Frage gegeben. Im Vergleich zu ihm versuche ich kriechend, auf der Ebene der politischen Wirklichkeit eine Antwort zu geben. Die erste Sache, um Europa wettbewerbsfähig zu machen, ist, dass Europa die Illusion des Föderalismus loslassen sollte. Wir sind bis unmittelbar an den Abgrund spaziert, es gibt keinen weiteren Boden unter unseren Füßen. Die fünftgrößte Wirtschaft der Welt ist aus der Europäischen Union ausgeschieden. Wenn wir diese Arbeit fortsetzen, wenn wir auf diese Weise weiter voranschreiten, wird dieser Prozess nicht stehenbleiben, also muss man die Illusion des Föderalismus loslassen. Hieraus folgt, dass Europa selbst mehrere Pole haben sollte. Wenn Sie aus dieser Perspektive all das deuten, was die Visegrád-Länder getan haben, dann können Sie sehen, wir haben uns genau dieses Ziel gesetzt. Die Visegrád-Länder wünschen als Region zu einem Pol der Europäischen Union zu werden, sie möchten zu einer starken, mit den anderen Regionen oder Polen Europas im Wettbewerb stehenden und auf diese Weise in wachsendem Maße zur Gesamtleistung Europas beitragenden Region werden.

 

Der andere Kilometerstein der zur Wettbewerbsfähigkeit führenden Straße ist, dass wir Europäer neue Formen der Zusammenarbeit etablieren sollen. Zunächst sollten wir nach einer neuen Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten anstatt des von Vornherein zum Scheitern verurteilten Freihandelsabkommens suchen. Es lohnt sich nicht, dieses Abkommen zu forcieren, es ist tot, es existiert nicht, vielleicht müssen wir nicht alle Ergebnisse der verrichteten Arbeit hinauswerfen, doch dieser Vertrag wird nicht zustandekommen. Wir müssen also an seiner Stelle etwas anderes abschließen. Wir müssen die Vertragsform finden, in der die Vereinigten Staaten und Europa miteinander einen Vertrag schließen können. Wir sollten nach der Möglichkeit einer Vereinbarung suchen, und wir sollten die Vereinbarungen mit China abschließen. Nehmen wir wieder die Frage von Russland hervor und versuchen wir in den Wettbewerb miteinzusteigen, der in der Welt heutzutage als der Wettbewerb der Vertragsabschlüsse beschrieben werden kann, und aus dem wir, Europäer, ausgeschlossen bleiben.

 

Auf dem Weg zur Wettbewerbsfähigkeit halte ich es für wichtig, dass wir die Finanzierung der einzelnen europäischen Nationalwirtschaften überdenken. Vorhin haben wir hier einen ausgezeichneten Vortrag hören können, der diese Frage berührte. Es ist meine Überzeugung, dass wenn wir nichts zum Investieren haben, dann können wir auch nicht mit unseren Wirtschaften eine höhere Drehzahl erreichen. Mitteleuropa steht in der Hinsicht nicht schlecht da, denn erstens gibt es eine Bank, eine europäische Bank, die meiner Ansicht nach die richtige Richtung kennt, ihr Name ist EBRD, und es stünde in unserem Interesse, ihre Tätigkeit auf dem ganzen Kontinent zu verstärken, aber besonders hier in Mitteleuropa. Und wir befinden uns in einer guten Lage, denn hier sind auch unsere Freunde, die Leiter der Bank of China, die sich auf unsere Seite gestellt hat und uns in Finanzierungsfragen unterstützt. Und von mir ist noch als letzter Kilometerstein auf dem Weg zur Wettbewerbsfähigkeit die Innovation zu entdecken. Legen wir in europäischem Maßstab größeres Gewicht auf die Innovation. Ich merke an, dass unter den mitteleuropäischen Ländern Ungarn hinsichtlich der aus dem Haushalt und dem Bruttoinlandsprodukt für Innovationen aufgewendeten Summen einen recht schönen Platz belegt, wir haben eine recht gute Leistung gezeigt, dies ist meiner Ansicht nach eine anerkennenswerte Leistung, aber noch immer nicht ausreichend, und man muss den Anteil der aus dem ungarischen Haushalt für Innovationen aufgewendeten Summen erhöhen.

 

Und dann möchte ich mich jetzt an die zwei wichtigen Gedanken von Herrn Larosière auf meine „Lámfalussysche Weise“ anknüpfen. Der erste ist der der Frage der Demographie, die er aufgeworfen hat. Ich werde hierauf selbstverständlich eine politische Antwort geben, der seinem Charakter nach von der Antwort eines Wirtschaftswissenschaftlers abweicht. Meiner Ansicht nach verdient es eine Nation oder Gemeinschaft, die nicht in der Lage ist, sich selbst zu reproduzieren, auch gar nicht, zu existieren, und das Urteil wird hierüber auf dem höchstmöglichen Ort auch gesprochen. Dies kann man nicht mit Tricks zudecken. Man kann es nicht mit Ansiedlung, Migranten, Gastarbeitern, raffinierten Tricks verdecken, weil das Problem tiefer liegt. Eine Gemeinschaft, die demographisch nicht in der Lage ist, sich selbst zu erhalten, glaubt nicht an ihre eigene Zukunft, verzichtet folgerichtig auf das Recht, zu existieren. Dies ist die schwerwiegendste Sache, der auch wir, Ungarn, ins Auge blicken müssen. Auch unser Haus brennt, aber auch jenes von ganz Europa. Ich bin überzeugt davon, dass wenn eine Gemeinschaft hierzu nicht in der Lage ist, eine Nation dies nicht aus eigener Kraft tun kann, sondern von außen nach Hilfe und Lösung sucht, dann bedeutet dies, dass sie teilweise, eventuell vollständig ihre frühere nationale Identität aufgeben muss, und dann ist das nicht mehr das gleiche Volk, wie jenes, über das wir gesprochen haben. Dies steht im Buch des Schicksals geschrieben, ich zumindest als Politiker lese dies aus diesem Buch heraus, und es ist meine Überzeugung, dass Europa hier eine Lösung finden muss, weil dies die Frage von Sein oder Nichtsein ist. Ungarn hat Schritte in der Familienpolitik unternommen, die bereits Ergebnisse zeigen, aber ich sage es noch einmal: Auch unser Haus brennt. Noch auf die Demographie zurückkehrend: Ich sage es Herrn Präsidenten Larosière, ich wage in dieser Angelegenheit in solch bestimmten Satzkonstruktionen zu formulieren, weil wir ein hierin über große Erfahrungen verfügendes Volk sind. Aussiedlung, Ansiedlung, Bevölkerungsaustausch, mit all ihren Konsequenzen; dies ist für uns genetisch codiertes Wissen. Wir wissen genau, dass wenn wir es mit solchen Instrumenten versuchen – sagen wir, wir blicken auf die Epoche der ungarischen Geschichte nach der türkischen Besetzung –, dann sehen wir genau, dass das Ende vom Ganzen der Verlust der Nation und des Landes ist. Deshalb wagen wir es auch, derart bestimmt in einer wissenschaftlich als kompliziert erscheinenden Frage Stellung zu nehmen. Schließlich ist die Politik kein theoretisches Genre, sondern eines der Erfahrungen.

 

Was die Außenpolitik, die europäische Außenpolitik und die Sicherheitspolitik angeht, die uns auch der Herr Präsident empfohlen hat, auch hier gibt es eine schwerwiegende Frage, die wir mit „Lámfalussyscher Ehrlichkeit“ aussprechen müssen. Und diese hört sich so an: Können wir ohne Amerika, die Mutigeren dürfen auch formulieren, können wir ohne die Angelsachsen den Kontinent gegen jedwede – ich wiederhole: jedwede! – äußere Bedrohung verteidigen? Dies ist die große Frage der Zukunft. Die Lösung dieser Frage scheint ein Kinderspiel zu sein, die man deutsch-französische Sicherheits- und militärische Zusammenarbeit nennt, gemeinsame Armee, gemeinsames Sicherheitssystem, wie wir es auch immer nennen wollen. Es hört sich sehr einfach an, aber wenn wir die Sache genauer bedenken, dann hat es so etwas noch nie gegeben, und dies zeigt neben der Einfachheit der Sache auch wie schwierig sie ist. Werden wir in der Lage sein, beziehungsweise werden die Betroffenen in der Lage sein, solch ein Verteidigungsbündnis zu schaffen? Die angesprochenen Verhandlungen heute und morgen in Berlin werden uns vielleicht Hinweise liefern.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Am Ende stehe ich dann doch als Ministerpräsident Ungarns hier vor Ihnen. Ich muss auch einige Worte zu Ungarn sagen. In erster Linie muss ich vielleicht wegen unseres chinesischen und des französischen Gastes einige Worte sagen. Ihnen mag es merkwürdig erscheinen, dass ein Land, das 0,2 der Weltbevölkerung stellt – das sind wir –, in solch großen Zügen und in solchen weltpolitischen Fragen seine Meinung äußert, und ich verstehe die damit verbundenen Aversionen, denn auch in der Politik ist es die wichtigste Regel, dass ein jeder wissen muss, wo sein Platz ist. Ebenso wie im Privatleben. Und ein Land muss wissen, wo auf Grund seiner Bewaffnung, seines Bruttoinlandsprodukts, seiner Bevölkerung und seiner Fläche sein Platz ist, und wenn es den entsprechenden Platz eingenommen hat, dann weiß es ganz genau, in was es hineinreden darf und in was nicht. Es bedarf also der Erklärung, warum Ungarn in solchen Fragen mit einer eigenen Meinung auftritt. Es gibt eine englische Weisheit, die sich ins Ungarische übersetzt etwas ungelenk anhört: nothing is as successful as the success – nichts ist so erfolgreich, wie der Erfolg. Dies erklärt, warum die Ungarn es wagen, in solchen Fragen Stellung zu nehmen. Denn wenn wir den Zeitraum zwischen 2010 und 2016 betrachten, den Zeitraum vor 2017, dann können wir sehen, dass Ungarn aus dem Schwarzen Schaf zu einer Erfolgsgeschichte geworden ist. Dies anerkennt natürlich nicht ein jeder, aber eine wichtige Wahrheit ist auch, dass die Fakten und die Wahrheit auch dann eingestanden werden müssen, wenn sie für die Ungarn vorteilhaft sind.

 

Deshalb muss noch die Tatsache in Erinnerung gerufen werden – womit ich Ihre Geduld noch zwei Minuten strapaziere –, dass wir 2010 kein Wirtschaftswachstum hatten, beinahe gar nichts. Die Staatsverschuldung lag bei über 85 Prozent, die Inflation wollte nicht unter 6 Prozent hinuntergehen, das gesamtstaatliche Defizit war auf 7 Prozent explodiert, und die Arbeitslosigkeit bewegte sich in einem Bereich zwischen 11,5-12 Prozent. Von den zehn Millionen Ungarn arbeiteten weniger als 3,7 Millionen, es arbeiteten also drei Millionen sieben hunderttausend, und genau die Hälfte von ihnen, also eine Million acht hunderttausend Menschen bezahlten Steuern. Wir hatten also keine Einnahmen, aber unsere Ausgaben waren determiniert, weil auch der Staat, die Unternehmen und die Familien verschuldet waren. Es ist kein Wunder, dass nicht Griechenland als erster auf ein Hilfspaket des IWF angewiesen war, sondern Ungarn. Von diesem Punkt aus sind wir gestartet. Heute können wir sagen, dass die Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt auf einer abnehmenden Bahn sind, das jährliche Defizit des Staatshaushaltes bewegt sich ständig um 2 Prozent, die Wirtschaft wächst jährlich um ein Maß von etwa 3 Prozent und die Arbeitslosenrate befindet sich irgendwo um 4,5 Prozent, sie nähert sich der Vollbeschäftigung an. Und unsere Außenhandelsbilanz schließt ständig mit großem Überschuss.

 

In solchen Momenten ergibt sich die Frage, warum dies gelingen konnte, wie kann man in einem Land innerhalb von 6 Jahren eine Wendung von 180 Grad vornehmen? Ohne auch nur irgendjemandem Ratschläge zu erteilen, machen wir auf folgende Tatsachen aufmerksam. Das erste und wichtigste ist die politische Stabilität. Wenn es wahr ist, dass der Ausgangspunkt der guten Wirtschaftspolitik die Politik, und zwar die stabile Politik sei, dann muss politische Stabilität geschaffen werden. Es gibt keine erfolgreiche Wirtschaftsreform, es gibt keine erfolgreiche wirtschaftspolitische Änderung ohne politische Stärke und politische Stabilität. Die politische Stärke ist nicht immer eine sympathische Sache, besonders ist sie es nicht in intellektuellen Kreisen, die Analysten mögen sie überhaupt nicht, es gibt auch politisch schlecht geschulte Finanzleute, die glauben, dass dann der Bewegungsspielraum des Banksektors größer sei, doch die Wahrheit ist, wer aber einen berechenbaren Geschäftsgang möchte, der ist immer an einer starken und berechenbaren Politik interessiert, von den die Mehrheit der Wähler stellenden 95 Prozent ganz zu schweigen.

 

Die andere wichtige Sache, die uns zum Erfolg geführt hat, ist die strenge Fiskalpolitik. Über die ich an dieser Stelle – auf den Vortrag von Herrn Präsidenten Larosière zurückverweisend, der gesagt hatte, die Menschen akzeptieren es oder sie akzeptieren es nicht, sie müssen einsehen, dass zeitweise die Fiskalpolitik notwendig ist – nur kurz etwas sagen möchte. Ich sage, die strenge Fiskalpolitik akzeptieren die Menschen nur dann, wenn sie sie für gerecht halten. Dies ist eine einfache Behauptung, ein komplizierter Satz. Die Menschen akzeptieren die strenge Fiskalpolitik, wenn sie sie als gerecht empfinden. Hierfür hat jede Nation ein anderes Rezept. In Ungarn begann es zum Beispiel mit der Halbierung der politischen Elite. Wir hatten keinen strengen Schritt in der Fiskalpolitik eingeführt, solange wir die Zahl der Politiker nicht um die Hälfte gesenkt hatten , das Parlament ist halb so groß, die Stadträte sind halb so groß, um nur eine Sache zu erwähnen. Und dann könnte ich auch noch viele andere Elemente anführen. Ich will damit nur sagen, dass eine auf strenge Fiskalpolitik aufbauende wirtschaftliche Erholung auch politisch gemanagt werden kann und möglich ist, deshalb stehe ich hier, und deshalb haben wir im Jahre 2014 die Wahlen nicht verloren, nachdem wir das Land fiskalisch in Ordnung gebracht hatten, sondern haben sie gewonnen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass es möglich ist; es ist nur eine komplizierte Angelegenheit und man muss sie auf nicht traditionelle Weise angehen. Die Frage der Gerechtigkeit darf die Fiskalpolitik nicht von den Gesichtspunkten des Themenkreises ausschließen.

 

Die dritte Sache, die den Erfolg in Ungarn erklären kann, ist die Schaffung der auf Arbeit basierenden Gesellschaft anstelle der auf Sozialhilfe basierenden Gesellschaft. Natürlich ist es nicht meine Aufgabe, zu spotten, aber ich würde gerne jenes westeuropäische Land – eventuell auch Frankreich – sehen, wenn die Regierung verkündet, dass der zeitliche Rahmen der Arbeitslosenunterstützung auf drei Monate zurückgegangen ist, danach gibt es keinerlei Hilfe, das öffentliche Arbeitsprogramm gibt es stattdessen, wer arbeitet, bekommt ein Gehalt, wer nicht arbeitet, bekommt weder ein Gehalt noch eine Hilfe, wir wünschen viel Erfolg.  Was ein sehr brutaler Satz ist, für ein europäisches politisches Ohr ein unannehmbarer Satz ist, der aber nicht weit von der Gerechtigkeit entfernt ist, und die ungarischen Menschen waren der Ansicht, dass sie von ihren Steuern ansonsten arbeitsfähige Menschen nicht finanzieren wollen, es sei die Aufgabe des Staates, zu organisieren, dass diese Menschen keine Hilfen, sondern einen Lohn erhalten können. Und wenn dieses Problem der Markt nicht lösen kann, dann soll der Staat sich zeitweilige Überbrückungslösungen ausdenken, doch ist das Wesentliche, dass ein jeder das Gefühl haben sollte, seine Steuerforints gehen an die richtige Stelle, woraus folgend dann auch die Steuern gesenkt werden konnten. Ich führe jetzt nicht alles an: dass die Körperschaftssteuer in Ungarn 9 Prozent beträgt und wir in der Einkommenssteuer einen einheitlichen Schlüssel von 15 Prozent für alle besitzen.

 

Der nächste, zum Erfolg führende Weg, auf dem wir noch sehr viele Kämpfe ausfechten, ist die Ausformung des Systems der dualen Ausbildung, also die Annäherung des von der  europäischen wirtschaftlichen Wirklichkeit entfernten Unterrichtssystems an die wirtschaftlichen Realitäten, damit sich nicht erst am Ende der Schule herausstellt, dass jenes Wissen, das wir unseren Kindern geben, zwar schön und edel ist sowie in der Theorie einen hohen Wert besitzt, in der Wirklichkeit aber zu nichts zu gebrauchen ist. Die europäischen Hochschul- und Mittelschulsysteme leiden unter dieser Erscheinung. Dies kann man nur so lösen, wenn wir etwas von unserer intellektuellen, unserer aristokratischen Einstellung aufgeben, und das schulische Ausbildungssystem etwas näher an die ölige, nach Realität riechende Wirklichkeit der Wirtschaft heranbringen. Der Erfolg der Deutschen ist zu einem ansehnlichen Teil vielleicht hierdurch zu erklären. Also statt Hilfe Arbeit, jedem Ungarn muss man eine Arbeitsmöglichkeit geben.

 

Und schließlich ist Teil des ungarischen Rezeptes, des ungarischen Modells auch die Frage der Öffnung nach dem Osten. Weil wir, Ungarn, nach 2008 den Eindruck hatten, Europa sei nicht in der Lage, für sich allein zu wachsen, wenn wir nur miteinander Handel treiben, und nur miteinander Geschäfte machen, wenn wir uns nicht Richtung Osten öffnen, dann wird daraus mit Sicherheit kein wirtschaftliches Wachstum. Dies hört sich gut an, und es hört sich einfach an, aber auch hier gibt es eine Sache, die die Europäer verstehen müssen. Es geht nicht, dass wir in Richtung auf andere Länder uns öffnen wollen, in Richtung Osten, sagen wir in Richtung auf China wirtschaftlich, und dann belehren wir sie beinahe jeden Morgen über Menschenrechte. So wird das nicht gehen. Also jene Art des Bindens von Bündnissen, nach der wir Euren Markt brauchen, wir eine wirtschaftliche Zusammenarbeit wollen, Euch auch um eine Finanzierung bitten, im Übrigen Euch aber nicht jenes Maß an Respekt zollen, das jeder einzelnen unabhängigen Nation in der Welt zusteht – das ist unhaltbar. Also solch eine Einstellung hat nur rhetorisch eine Öffnung nach Osten zum Ergebnis, in der Wirklichkeit nicht. Das Wesen der Öffnung nach dem Osten ist der Respekt. Und wer nicht versteht, dass der Respekt vor der Ideologie kommt, der wird niemals sich nach Osten öffnen können, denn er versteht die Menschen des Ostens nicht. Unsere Situation ist eine glücklichere, weil wir ein Volk aus dem Osten sind, dem das Christentum eingeimpft worden ist, und dies ermöglicht eine eigentümliche Perspektive, und wir verstehen all das, was in China geschieht. Nachdem wir, nicht wahr, über ein diszipliniertes Land sprechen, verstehen wir auch, was sie nicht als Antwort auf die westliche Kritik geben, anstatt jene Leistung anzuerkennen, die der Erfolg und der Wert der aus der Armut und der hoffnungslosen wirtschaftlichen Situation herausgehobenen Volksmassen vertritt, und was China auch aus moralischem Gesichtspunkt als das wichtigste Argument auf seiner Seite anführen kann. Wenn wir dies nicht akzeptieren, dann gibt es keine Öffnung nach dem Osten, dann gibt es nur Geschäftemacherei, was nicht identisch mit der Öffnung nach Osten ist. Ungarn strebt nach einer Öffnung nach Osten.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Das ungarische Modell ist also aus vier Elementen errichtet: politische Stabilität, strenge Fiskalpolitik, auf Arbeit basierende Gesellschaft und die Öffnung nach Osten. Mit der notwendigen Bescheidenheit, aber auch dem nötigen Selbstbewusstsein können wir diese Dinge der Welt zum Überdenken anbieten.

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!